Wir müssen zu kooperativen Lösungen kommen

Ein Gespräch mit Professor Achim Schlüter über die Perspektiven der marinen Sozialwissenschaft, lokales Fischerei-Management, die Risiken der Blue Economy und lokale Lösungsstrategien

Was verstehen Sie unter Blue Economy und was macht die Auseinandersetzung mit ihr so wichtig für die Meerespolitik?

Ich habe darüber nachgedacht, ob Blue Economy – so in etwa wie Sustainability – ein Begriff sein könnte, unter dem wir uns alle einfinden könnten. Aber das trifft nicht den Punkt. Bei den Nachhaltigkeitszielen haben wir unterschiedliche Vorstellungen, aber letztlich geht es in eine ähnliche Richtung. Dagegen ist Blue Economy ein dichotomer Begriff. Da gibt es die einen, die in der Blue Economy das Wundermittel für eine nachhaltige Meerespolitik sehen, während für andere Blue Economy „the inclosure oft the last commons“ ist und die Voraussetzung für das schafft, was wir Ocean Grabbing nennen. In anderen Worten: Der Ozean wird mit den Mitteln der Marktwirtschaft erschlossen, alles wird zum Produkt und die Kapitalanforderungen steigen und schließen dadurch Akteure aus. Das ist heute die Realität. Wir dehnen unsere Aktivitäten immer weiter auf die Ozeane aus: Wir stellen Windräder auf. Wir bohren immer mehr nach Öl. Wir kommen auf die Idee, Ressourcen aus der Tiefsee zu holen. Da wollen Leute Geld verdienen. Viel Geld. Das ist der Antriebsmotor, Profit aus den Meeresressourcen zu schlagen. So entsteht ein Wildwuchs in einem Raum, den wir noch nicht reguliert haben. Zugleich müssen wir die Frage nach Umweltgerechtigkeit stellen.

Wie gehen Menschen damit um, die nicht die Macht haben, Regeln zu gestalten? Gerade an den Küsten prallen Arm und Reich aufeinander. Wie schaffen wir es einen Ausgleich zwischen privaten und öffentlichen Gütern herzustellen? Was für eine Art von Meeresnutzung wollen wir in der Zukunft betreiben? Diese Fragen beschäftigen mich. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als über Regeln nachzudenken, die das in halbwegs verträgliche Bahnen lenken, und dass wir uns organisieren, so wie sich das ja auch Fair Oceans auf die Fahnen geschrieben hat.

Wie sieht aktuell das Management der Küstenzonen aus und welche Rolle spielen darin die lokalen Gemeinden?

Gehen wir zunächst in den Senegal und betrachten die handwerkliche Fischerei. Neben den von den Küstengemeinden eingerichteten lokalen Fischerausschüssen (CLP) ist das wichtigste Organ, das für die Governance dieses wichtigen Teilsektors der Fischerei geschaffen wurde, der Rat für die lokale handwerkliche Fischerei (Conseil Local de Pêche Artisanale, CLPA). Mich interessiert die Frage, ob eine von außen geschaffene Verwaltungsstruktur wie der CLPA tatsächlich vor Ort in den Gemeinden funktioniert. Das Modell wurde meines Wissens von der Weltbank damals Anfang der 2010-Jahre aufgebaut. Wie lässt sich das auf das lokale Fischerei-Management übertragen?

Ich glaube zutiefst an Selbstbestimmung und partizipative und dezentrale Formen des Fischerei-Management. Letztendlich bin ich fest davon überzeugt, dass die Menschen in Saint-Louis im Norden des Senegal am besten wissen, wie sie den Fischerei-Sektor organisieren sollten. Es ist von außen schwer einzuschätzen, wer vor Ort die Macht hat und welche Triebkräfte wirken. Das sind oft traditionelle Steuerungsmechanismen. Da spielt der Islam eine ebenso wichtige Rolle wie der Einfluss der lokalen Leader und auch die Organisationsformen, in denen sich die Fischer seit Langem organisiert haben. Andererseits mischen seit einiger Zeit die Chinesen, die zunehmend in der Fischereiwirtschaft des Senegals aktiv sind, das traditionelle System auf. Plötzlich werden mit chinesischem Kapital neue Finanzierungsformen für den Betrieb von Pirogen gefunden, und es entstehen überall Fischmehlfabriken, die die Ernährungssicherheit bedrohen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit partizipativen Ansätzen gemacht?

Wir machen gerade eine Studie in Ghana „Diagnosing institutional change in coastal social-ecological systems in Ghana“. Darin untersucht der Wissenschaftler Hudu Banikoi, der Ghanaer ist, warum das Ko-Management im marinen Bereich schiefgelaufen ist. Man hatte sich von diesem Ansatz für die Verwaltung der Küstenfischerei und den Mangrovenschutz viel versprochen. Aber die Untersuchung zeigt, dass die Interaktionen zwischen den Beteiligten auf internationaler, überregionaler und lokaler Ebene problembehaftet waren. Über den Ko-Managementansatz werden Vorstellungen von Demokratie transportiert, die nichts damit zu tun haben, wie dort, beispielsweise bei den Ewe, das Gemeinwesen oder Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft organisiert werden. Auch in Indonesien haben wir die Erfahrung gemacht, dass partizipative Modelle zwischen der Kleinfischerei und dem Staat nicht unbedingt erfolgreich sind. Normalerweise, denkt man, müsste es richtig gut funktionieren, wenn man die Rechte der lokalen Fischerei durch internationale Leitlinien stärkt. Die lokalen Fischer machen auf deren Basis einen Vertrag mit dem Staat und bestimmen, wie sie die Fischerei organisieren. Die Idee eines solchen Vertrages entspricht westlicher Denke und mag keinen „Institutional Fit“ im Kontext haben.

Demgegenüber war es spannend zu sehen, dass dieselben Freiwilligen Leitlinien der FAO in Costa Rica durchaus positive Effekte für die Kleinfischerei hatten. Dort ging es um die Fischereiaktivitäten in marinen Schutzzonen am Golf von Nicoya, und es war offensichtlich, dass die Leitlinien eine immens wichtige Funktion in der Diskussion mit den staatlichen Vertretern hatten. Die Kleinfischer hatten etwas in der Hand, das der Staat nicht übergehen konnte und ihre Existenz zu sichern half.

Lassen sich im Kontext von Blue Economy und der starken Umweltbelastung der Ozeane grundsätzliche Lösungsansätze finden?

Aus meiner Perspektive würde ich sagen, dass wir uns konkret Gedanken darüber machen sollten, wie wir eigentlich mit dem Verlust umgehen? Mit dem Verlust von Biodiversität, aber auch mit dem Kulturverlust, den wir überall sehen. Wir sind einerseits in der Lage, Naturschutzmaßnahmen zu ergreifen, zum anderen machen wir das krasse Gegenteil. Wir verbrauchen Ressourcen, ohne uns Grenzen zu setzen. Fliegen um die Welt, mit dem Öl zum Beispiel aus Ghana. Doch man kann Dinge anders machen. Man kann alternative Wirtschaftsformen entwickeln. Man kann zuhören und wenn man will, verstehen, dass der Mensch unterschiedliche Strategien entwickelt hat, sein Leben zu organisieren. Aber wir alle müssen uns darüber Gedanken machen, welche Richtung wir einschlagen wollen.

Vor zwei Wochen war ich in Nordstrand. Es ging um ein kulturvergleichendes Projekt zwischen Indonesien und Deutschland. In diesem Kontext wurde darüber gesprochen, wie in den Ländern der Meeresspiegelanstieg wahrgenommen wird und ob wir es global schaffen werden, mit all seinen Auswirkungen klarzukommen. Dazu waren die Meinungen sehr geteilt. Als Ökonom muss ich sagen, die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Klimaziele erreichen werden, ist sehr gering. Der Klimawandel ist ein globales, kollektives Dilemma. Doch letztlich, ob es nun der Klimawandel ist oder der schlechte Zustand der Meere ist, wir haben gar keine andere Wahl, als es zu schaffen.

Wissen Sie, an unserem Umgang mit den Ozeanen wird letztendlich eine zentrale Frage der Sozialwissenschaften deutlich. Die Ozeane sind in weiten Teilen ein kollektives Gut, das wir gemeinsam – ich will nicht sagen besitzen, weil wir es nicht besitzen – zur Verfügung haben und mit dem wir deshalb auch gemeinsam lernen müssen umzugehen. Das ist eine große Herausforderung.

Sie haben gerade gesagt, dass an den Küsten Arm und Reich aufeinanderprallen. Wie lassen sich Regeln finden, die die gemeinsame Nutzung des Meeres fairer regeln?

Im Meeresbereich, das ist meine Beobachtung aus den letzten Jahren, haben wir meistens eine ökonomische Entwicklung, die der Regulierung und der Regelentstehung vorauseilt. Ich erinnere mich, dass bei dem erwähnten Beispiel in Costa Rica im Golf von Nicoya ein chinesischer Händler die sogenannte Taiwanessa eingeführt hat, eine bestimmte Art von Netz, das zu einem großen dort Nachhaltigkeitsproblem geführt hat, was Jahre später dazu führt, dass der Fang mit diesen Netzen reguliert werden muss. Man kann viele Beispiele finden, wo findige schlaue Unternehmer irgendetwas entwickeln, woraus dann später Konflikte entstehen. Gerade im Bereich der Land-Meeres-Interaktion treffen mächtige, wohlhabende Akteure auf machtlose Akteure, und die Interaktion ist sehr häufig von einer starken Macht-Asymmetrie charakterisiert. Das erinnert schon ein bisschen an den Darwin’schen Leitgedanken survival of the fittest. Ich beziehe mich hier auf die ökonomische Theorie kollektiven Handelns. Also die nachträgliche Regelentstehung in dem ganzen Gefüge – das kann man auch theoretisch gut erklären – ist ein sogenanntes kollektives Dilemma zweiter Ordnung. Also wir haben das Nutzungsproblem, das ist bereits ein kollektives Dilemma auf der ersten Ebene. Um dieses Problem zu lösen, bedarf es Regeln, was wiederum ein Problem kollektiven Handelns ist. Menschen müssen sich zusammenschließen, um allgemeingültige Regeln aufzustellen. Das Meer (und seine Nutzung) sind per definitionem ein öffentliches Gut. Das Problem ist, einzelne wenige organisieren sich relativ gut. Schauen wir uns doch die Diskussion um den Tiefseebergbau an. Wenige große Firmen, die potenziell in der Lage sind, Tiefseebergbau zu betreiben, verfolgen starke ökonomische Interessen. Sie haben die Möglichkeit in die (für sie) richtige Governance zu investieren. Diejenigen, die marginal betroffen sind – vielleicht auch in einigen Jahren erst davon betroffen sind – lassen sich nur sehr schwer organisieren. Es lässt sich unschwer vorhersagen, dass es langfristig zu einer Benachteiligung der Machtlosen kommt – nicht zuletzt zum Schaden der Umwelt.

Ist die Idee von den Ozeanen als Commons geeignet um so etwas wie eine Blue Justice zu erreichen?

Ich habe ursprünglich Volkswirtschaft studiert, mit dem Schwerpunkt Umweltökonomie, und da spielen die commons eine große Rolle, genauer die Frage nach der sogenannten „strategy of the commons“. Dabei geht es um das Schaffen von Verfügungsrechten (property rights) und klaren Regeln, welche die Menschen vereinbaren, um die Ressourcen zu nutzen, zu bewahren und zu teilen. Das wird im Lehrbuch hervorragend beschrieben, aber all das hat relativ wenig mit der Realität der Menschen zu tun. Meines Erachtens ist es jedoch zentral für die marinen Sozialwissenschaften, dass das richtig verstanden wird.

In diesem Zusammenhang habe ich mich sehr viel mit dem Ansatz der Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom beschäftigt. Sie geht davon aus, dass ein Gemeingut kein Niemandsland ist, sondern Eigentum für die Gruppe. Für bestimmte Dinge dieser Erde, für bestimmte soziale Gegebenheiten ist diese Eigentumsform genau das Richtige. Unsere Aufgabe als Wissensschaffende ist es zusammen mit den Betroffenen nach Regeln zu suchen, die eine solche Eigentumsform für nachhaltige Entwicklung möglich macht.

Mich interessiert als Sozialwissenschaftler, der in der Meeresforschung arbeitet, die Frage, ob und wie sich Küstengemeinden dezentral und partizipativ organisieren, und wie deren Gesellschaften im Inneren ticken. Wir sind an den verschiedenen Orten auf der Erde mit gänzlich anderen Kulturen mit vollkommen anderen sozialen Regeln konfrontiert, die darüber bestimmen, welche Rolle der Einzelne in seiner Gesellschaft einnimmt. Das hat große Auswirkungen darauf, wie beispielsweise Verträge ausgehandelt und Nutzungskonflikte gelöst werden oder wie die commons geteilt werden und wer das Sagen in der Gesellschaft hat.

Als Sozialwissenschaftler weiß ich zudem, dass wir vor allem besser verstehen müssen, wie Menschen zu kooperativen Lösungen kommen. Wie können Nutzungskonflikte auf lokaler Ebene für alle Beteiligten zufriedenstellend geregelt werden? Wie schaffen wir es, dass Menschen für solche Dilemmata, wie sie durch den Klimawandel oder den Ressourcenkonflikt in der Fischerei verursacht werden, Lösungsstrategien entwickeln? Aber wir müssen gar nicht so weit gehen. Wie schaffen wir es, Regeln zu vereinbaren, so dass es im Interesse der einzelnen Menschen liegt, einen Beitrag zum Klimaschutz leisten?

Wie sehr spiegelt sich diese Perspektive in der Meeresforschung und den Debatten um die Meerespolitik wider?

Ich beobachte, dass viele Naturwissenschaftler*innen mehr als früher in die Sozialwissenschaften hinein mäandern und sozialwissenschaftliche Methoden benutzen. Das resultiert häufig daraus, dass der Naturwissenschaftler, der eigentlich am Schutz der Meeresumwelt interessiert ist, erkannt hat, dass wir die Menschen verstehen müssen, wenn wir den Meeresschutz effektiv organisieren wollen. Anders gesagt: Der Mensch ist der wesentliche Schlüssel, wenn wir etwas verändern wollen. Dadurch sind wir ein ganzes Stück vorangekommen, was die Bedeutung in den Meeressozialwissenschaften angeht. Im Hinblick auf die Ozean Dekade kann man sogar sagen, dass es momentan zu wenig Kapazitäten gibt, um den vielen Anfragen nachzukommen. Wir sind einfach zu wenige. Und viele Wissenschaftsbereiche sind noch gar nicht besetzt und kaum erforscht, was die Meerespolitik angeht.

Sind die Perspektiven auf die Blue Economy, auf Meeresschutz und -forschung zu sehr vom westlichen Denken dominiert?

Erst wenn wir im Detail verstehen, wie das Handeln der Menschen aus verhaltensökonomischer Sicht zu erklären ist, warum sie das tun, was sie tun und dies wirklich in unsere Überlegungen miteinbeziehen, kommen wir zum Kern der Sache. In weiten Teilen der Forschung gehen wir nach wie vor davon aus, dass sich das Verhalten des Menschen an westlichen Werten und Einstellungen orientiert. Wie jedoch genau Ausbeutung und Umweltzerstörung zu regulieren sind, das ist letztlich nur in dem lokalen kulturellen Kontext zu verstehen. Das eine gute Programm, das eine Organisation aus dem globalen Norden nur zu implementieren braucht, um die Probleme der Welt zu lösen, das existiert nicht. Letztlich können solche Prozesse nur aus dem Inneren der Gesellschaften heraus entstehen. Das macht sie komplexer und verlangsamt sie vielleicht, doch auf der anderen Seite können wir von der Vielfalt der politischen Kulturen und Erfahrungen lernen und mit Glück einiges dann besser machen – auch hier bei uns.

Cornelia Wilß für Fair Oceans, 2021