Seenotrettung

Die Rettung aus Seenot ist geradezu eine essentielle Konstante der Kultur und Praxis der Seefahrt. Menschen aus Seenot zu retten und unbeachtet von ihrer Herkunft und den Umständen des Unglückes vor dem nassen Tod zu bewahren, ist jedoch nicht nur seit Jahrhunderten eine seemännische Tradition und moralische Verpflichtung. Mit dem Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See [Safety of Life at Sea, SOLAS] wurde die Rettung aus Seenot international auch rechtlich zur Pflicht. Die erste Fassung von SOLAS wurde 1913 verfasst und war eine Reaktion auf den Untergang der Titanic. Rechtlich festgeschrieben wurde diese Pflicht darüber hinaus auch noch einmal im Seerechtsübereinkommen [United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS] von 1982.

In Europa wird diese rechtliche Verpflichtung heute im Kontext der Migrationsdebatte vielfach ausgehöhlt oder gar in Frage gestellt. Die Kontrolle der Flucht über das Mittelmeer und der Umgang mit den Boatpeople und ihren Seenotretter*innen sind Streitthemen. Das Mittelmeer ist zu einem Teil des europäischen Grenzregimes, zu einer Mauer der Festung Europa geworden. Dies ist mit der Flüchtlingswelle 2015 in den öffentlichen Fokus geraten. Noch nie transportierten Schiffe allein nur Waren. Seit langer Zeit machen die Schifffahrtswege als zentrale Verkehrsadern der Menschheit globale Migrationsbewegungen, Kommunikation und kulturellen Austauch möglich. Die Verbreitung des Menschen und die Besiedlung neu entdeckter Regionen der Erde fand nicht zuletzt über den Seeweg statt. Seemächte schufen Weltreiche und kolonisierten über die Seeverbindungen die Länder des globalen Südens, in denen sich die Erober*innen niederließen und die Einheimischen vertrieben oder unterdrückten. Nachdem den Bürgern der deutschen Länder 1815 auf dem Wiener Kongress die Reisefreiheit zugestanden worden war, wanderten zwischen 1816 und der Jahrtausendwende rund 7,5 Millionen von ihnen in die USA aus. Nicht wenige verloren dabei gerade in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihr Leben. Sie reisten mit Segelschiffen und die Dauer der Überfahrt über den Atlantik schwankte stark. Sie verhungerten an Bord oder versanken samt ihren Schiffen im Meer. Hab und Gut in der Heimat wurde verkauft, um die Überfahrt und den Neustart zu finanzieren. Die Auswander*innen suchten ein besseres, ein glückliches Leben, Freiheit und flohen vor Armut und Hunger. Wer nicht ausreichend Geld beisammen hatte, musste sich in die Weiße Sklaverei begeben und seine Schulden als Höriger abarbeiten. Allein über den Hafen von Bremerhaven wanderten im Zeitraum zwischen 1830 bis 1974 7,2 Millionen Menschen aus Deutschland und Europa per Schiff in die weite Welt aus. Im Hamburger Hafen schifften sich zwischen 1850 und 1934 noch einmal etwa 5 Millionen Auswander*innen ein. Zwischen 1847 und 1914 waren die Deutsche die stärkste Einwanderergruppe in die Vereinigten Staaten.

Auch heute wandern Deutsche in großer Zahl aus, besuchen so zahlreich wie kaum eine andere Nation andere Länder und exportieren weltweit ihre Waren. Überall sind deutsche Unternehmen und deutsche Urlauber zu finden. Deutschland ist nach Außen hin das globalisierte Land schlechthin. Gerade am Mittelmeer weist vieles auf diesen Zustand hin, dort wo gleichermaßen die Kreuzfahrtschiffe wie auch die Plastikboote der Flüchtlinge über das Meer fahren. Seine Küste sind beliebte Reiseziele und zugleich der Randbereich der tödlichsten Grenzanlage auf der Welt. Eine Grenzanlage, die nicht nur durch eine ausgedehnte Kontrolle durch Frontex und andere europäische Behörden funktioniert, sondern auch durch Unterlassungen, durch das Verweigern und Erschweren von Hilfe, durch Nichtstun und Zuschauen. Das Sterben auf See wird zugelassen und billigend in Kauf genommen. Es ist eine Variante von Abschreckungspolitik.

Nach dem Vietnamkrieg starben noch hunderttausende von Vietnames*innen durch die Verfolgung im eigenen Land in Lagern, wurden hingerichtet und zur Zwangsarbeit gezwungen. Es folgte eine Fluchtwelle wie sie in den letzten Jahren aus Syrien kam. 1,6 Millionen flohen am Ende und stiegen zum großen Teil in Boote mit bis zu 600 Leidensgefährt*innen, um ihr Land zu verlassen. Im Südchinesischen Meer wurden sie zu den sogenannten Boatpeople. An die 250.000 von ihnen ließen dort ihr Leben. Die Bilder von den Flüchtlingen in ihren kaum seetüchtigen Nussschalen gingen damals um die Welt und sie schufen Solidarität.

Für die Weltgemeinschaft beobachtet der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge [United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR] die Situation auf dem Mittelmeer. Das Flüchtlingskommissariat UNHCR stellte fest, dass die Flucht über das Mittelmeer seit 2015 gefährlicher geworden ist. Der Anteil der Todesopfer an den Bootsflüchtlingen ist gestiegen. Laut Kommissariat verdreifachte sich die Todesrate im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen auf der einen sowie Malta und Italien auf der anderen Seite. Insgesamt flüchteten 2018 fast 117.000 Menschen über das Mittelmeer.  Von ihnen kamen 2.275 zu Tode gekommen. Damit starben im Durchschnitt Tag für Tag mehr als sechs Menschen auf dem Mittelmeer. 2017 gab es 3.139 Tote bei 172.000 Flüchtlingen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es zudem eine hohe Dunkelziffer gibt und die Zahl derer, die spurlos auf See verschwinden, noch deutlich höher ist. Offiziell erfasst wurden zwischen Januar 2014 und Juni 2018 insgesamt 16.346 Menschen, die im Mittelmeer ums Leben kamen. Eines der größten Einzeldramen ereignete sich kurz vor diesem Zeitraum am 3. Oktober 2013 als ein Boot mit etwa 545 Flüchtlingen vor Lampedusa unterging und deshalb 366 Menschen ertranken.

Dennoch ist Europa sich nicht einig und die Anstrengungen der EU zur Rettung der Menschen sind halbherzig und ungenügend. Die Frage von Flucht und Zuwanderung ist zu einer neuen „Cleavage“ geworden: Einer grundsätzlichen Konfliktlinie, die bestimmend ist für Wahlentscheidungen und die Bildung gesellschaftlicher Lager. Forderungen die Menschenrechte zu achten und Hilfe zu leisten werden immer wieder von Fremdenfeindlichkeit überschattet. Privaten Seenotrettungsmissionen werden von Regierungen Steine in den Weg gelegt und sie werden kriminalisiert. Selbst Schiffsbesatzungen, die einfach ihren rechtlichen Pflichten nachkommen wird, wird die Hilfeleistungen erschwert. Seenotrettung darf unter keinen Umständen kriminalisiert werden. Die EU muss ihre Kapazitäten zur Seenotrettung stattdessen deutlich ausbauen und ein eigenständiges, grenzübergreifendes Seenotrettungsprogramm aufbauen. Die Flucht nach Europa darf nicht mit dem Tod bestraft werden. Hafenstädte haben Einrichtungen für aus Seenot gerettete Menschen zur Verfügung zu stellen, den Rettungsschiffen in jedem Fall das Einlaufen zu gewähren und die Flüchtlinge von den Schiffen zu übernehmen. Seenotrettung darf keinesfalls als Instrument der Migrationspolitik missbraucht werden. Eine Rettung muss vorbehaltslos geschehen.

Hier dokumentieren wir einen Brief zivilgesellschaftlicher Organisationen an Bundesministerin Dr. Katarina Barley und Bundesminister Horst Seehofer in dem diese zügige und verlässliche Regelungen für die Ausschiffung von Geretteten verlangen

Berlin, 31.1.2019

Zügige und verlässliche europäische Regelungen für die Ausschiffung von Geflüchteten schaffen

Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
Sehr geehrter Herr Bundesminister,

wir, die unterzeichnenden Organisationen, Netzwerke und Plattformen, sind in großer Sorge angesichts der aktuellen Krise im Mittelmeer, und bitten Sie dringend, tätig zu werden. Seit Januar 2018 sind mindestens 2.500 Frauen, Kinder und Männer im Mittelmeer ertrunken. Währenddessen haben die Staats- und Regierungschefs der EU vor dieser Tragödie ihre Augen verschlossen und sich auf diese Weise daran mitschuldig gemacht.

Seit mehr als sechs Monaten versuchen EU-Regierungen erfolglos, sich auf ein Verfahren zu einigen, das es den Überlebenden ermöglichen würde, sicher an Land zu gehen, wenn sie eine europäische Küste erreichen. Jedes Mal, wenn ein Schiff gerade gerettete Menschen in einen europäischen Hafen bringt, führen die Regierungen der EU quälende und langwierige Debatten darüber, wo das Schiff anlegen kann und welche Länder die Überlebenden aufnehmen und ihre Asylanträge bearbeiten können. Frauen, Männer und Kinder, die auf ihrer Reise häufig körperliche und seelische Verletzungen mit sich herumtragen, bleiben zuweilen fast einen Monat lang auf See gefangen. Die EU-Marinemission „SOPHIA“ im Mittelmeer läuft Gefahr, vollständig eingestellt zu werden, da sich die europäischen Regierungen nicht darauf einigen können, wo sie gerettete Menschen von Bord gehen lassen.

Gleichzeitig üben europäische Regierungen unangemessenen Druck auf Nichtregierungsorgani­sationen (NRO) aus, die im Mittelmeerraum lebensrettende Such- und Rettungsaktionen durchführen. Anstatt diese Aktivitäten zu unterstützen und damit Leben zu retten, haben einige EU-Mitgliedstaaten die Operationen dieser Organisationen immer weiter erschwert, haben ihnen unbegründete Vorwürfe gemacht und verhindert, dass Such- und Rettungsboote auslaufen können. Während im vergangenen Jahr fünf Organisationen Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchgeführt haben, kann dies heute nur noch eine tun.

Die Maßnahmen der europäischen Regierungen haben es den in der Seerettung aktiven Organisationen extrem erschwert, ihre lebensrettende Arbeit fortzusetzen. Die Maßnahmen haben auch andere Schiffe davon abgehalten, ihre Verpflichtung zu erfüllen, Menschen in Not zu retten und sie an den nächsten sicheren Ort zu bringen. Infolgedessen ist das Mittelmeer eines der tödlichsten Meere der Welt geworden. Im Januar rettete ein Hubschrauber der Marine drei Personen, die berichteten, dass ihr Boot Libyen mit 120 Frauen, Kindern und Männern an Bord verlassen hatte. Alle anderen waren ertrunken. Personen, die zwangsweise nach Libyen zurückgeschickt werden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit willkürlich inhaftiert, misshandelt, gefoltert oder in die Sklaverei verkauft. Laut des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR wurden 2018 mehr als 15.000 Menschen nach Libyen zurückgebracht.

Nach internationalem Recht sollten auf See gerettete Personen an den nächstgelegenen sicheren Ort gebracht werden, wo sie mit Respekt behandelt werden und Schutz erhalten. Europa hat sich verpflichtet, Menschen im Mittelmeer zu retten und die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme unter den Staaten aufzuteilen. Das Recht, Asyl zu suchen, und der Grundsatz der Nichtzurückweisung sind in den Verträgen der Europäischen Union verankert. Dort wird auch erklärt, dass die Union auf der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte gegründet ist. Dies sind die Werte, an die wir alle glauben – und das Recht, an das wir gebunden sind. Sie sollten daher ungeachtet aller politischer Meinungsverschiedenheiten aufrechterhalten werden.

Wir bitten Sie bei der bevorstehenden informellen Tagung des EU-Rats für Justiz und Inneres eine zügige Ausschiffungsregelung zu vereinbaren, die geeignet ist, Leben zu retten und die die Grundrechte der Menschen, einschließlich ihres Rechts, Asyl zu suchen, respektiert. Im Einzelnen fordern wir vom Rat:

  1. Unterstützung von Such- und Rettungsaktionen: Die Länder sollten allen Schiffen, die Such- und Rettungsaktionen durchführen, erlauben, in ihren Häfen anzulegen, gerettete Personen von Bord gehen zu lassen und zügig wieder abzulegen. Der Versuch, die lebensrettenden Operationen von NRO und Handelsschiffen zu verhindern, ist ein gefährlicher Ansatz, der Leben gefährdet und das Vertrauen der Bürger in ihre Regierungen untergräbt, die Situation zu lösen.
  2. Verabschiedung zügiger und verlässlicher Ausschiffungsregelungen: Bis eine Reform des Dublin-Systems einschließlich eines ständigen Mechanismus zur gemeinsamen Verantwortungsteilung verabschiedet wird, sollten Vorkehrungen getroffen werden, um eine zügige Ausschiffung und Verteilung der geretteten Personen auf die Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen. NRO haben konkrete Vorschläge für an die Ausschiffung anschließende Umverteilungsverfahren gemacht. Angesichts der dringenden Notwendigkeit von Maßnahmen zur Aufteilung der gemeinsamen Verantwortung und der Hindernisse für eine EU-weite Lösung sollten unverzüglich Vereinbarungen getroffen werden und die teilnehmenden Staaten sollten von Anfang an feststehen, nicht auf einer „Schiff-für-Schiff“-Basis. Keine Vereinbarung sollte andere Mitgliedstaaten von ihren rechtlichen Verpflichtungen aus EU-Recht, dem internationalen Flüchtlingsrecht oder dem Seerecht entbinden.
  3. Ende der Rückführungen nach Libyen: Libyen ist ein Land im Kriegszustand, in dem Flüchtlinge und Migranten oft unter furchtbaren Bedingungen festgehalten werden, die ihre grundlegenden Menschenrechte verletzen. Frauen, Kinder und Männer, die von der durch die EU unterstützten libyschen Küstenwache oder auf Anweisung der Maritimen Rettungs-und Koordinierungszentren nach Libyen zurückgeschickt werden, sehen sich unausweichlich einer willkürlichen Inhaftierung und der Gefahr von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Maßgebliche Quellen, darunter einige der Unterzeichnerorganisationen, haben konkrete Fälle dokumentiert, in denen aufgegriffene oder gerettete Personen bei ihrer Rückkehr nach Libyen gefoltert und misshandelt wurden. Die UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR hat alle Staaten aufgefordert, Angehörige von Drittstaaten wegen der ihnen dort drohenden Gefahren nicht nach Libyen zurückzuschicken. Die europäischen Regierungen sollten klare Prüfkriterien festlegen, einschließlich der Beendigung willkürlicher Inhaftierungen, und dazu bereit sein, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache und ihre Unterstützung auszusetzen, wenn diese nicht erfüllt werden.

Wir fordern Sie angesichts der immer dramatischeren Situation dringend dazu auf, umgehend geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

Mit freundlichen Grüßen

Unterzeichnende Organisationen/Netzwerke:

11.11.11.
ACT Alliance EU
Aktion gegen den Hunger
African Media Association Malta
Amnesty the Netherlands
AOI
Arcs
Ärzte ohne Grenzen
Blue Door English
Caritas Europa
CEFA Onlus
Churches´ Commission for Migrants in Europe (CCME)
CIRÉ
COMI
Concord Italia
Danish Refugee Council
Dutch Refugee Council
European Evangelical Alliance
Focsiv
Gcap Italia
Human Rights Watch
ICMC
IPSIA-ACLI
Kopin
La Coordinadora
Legambiente
Malta Microfinance
Marche Solidali
Missing Children Europe
Mixed Migration Centre
Oxfam
Pax for Peace
Pro Asyl
SKOP
Sonia per un mondo nuovo e giusto
SOS MEDITERRANEE
The European Council on Refugees and Exiles
The Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants (PICUM)